Realtalk Part 7 - "klingt extrem, oder?"
Hi,
mein Name ist Nijura und ich bin Autist mit ADHS. Ein Satz, von dem ich niemals gedacht hätte, dass ich ihn mal über mich selbst sage. Doch seit nun knapp einem Jahr habe ich die offizielle Diagnose und dadurch die Gewissheit.
Aber was heißt das jetzt? Autist mit ADHS? Sind das nicht ziemlich gegenteilige Diagnosen? Schon, jedoch kommt so eine „Kombi“ tatsächlich häufiger vor als man denkt. Aber was bedeutet das jetzt im Detail? Das ist tatsächlich schon etwas schwieriger zu erklären.
Ein Hinweis vorweg: ich berichte hier ausschließlich von meinen eigenen Erfahrungen. Das ist keine Universelle „So sind Autisten mit ADHS“ Beschreibung. Solltet ihr euch in der Hinsicht weiterbilden wollen, so empfehle ich die Webseite „ADXS.org“.
Doch nun zur Frage, was das nun im Detail für mich bedeutet.
Ich bin spätdiagnostiziert. Das allein bedeutet bereits, dass ich den Großteil
meines Lebens ohne die notwenigen Hilfsmittel oder Unterstützung klarkommen
musste und mir somit eine Menge eigener, vorwiegend schlechter, Mechaniken
angeeignet habe.
Gezeigt hat sich das vor allem dadurch, dass ich ständig krank wurde, teilweise
schwere Stimmungsschwankungen hatte und mit vielen Dingen einfach grundsätzlich
nicht klarkam. Ich war die Verträumte, diejenige, die zum Schulausflug ihren
Geldbeutel daheim vergisst oder für einen Wanderausflug dünne Sandalen trägt.
Ich war die Vergessliche, die Sensible, die Komische.
Ich wuchs auf mit dem verinnerlichten Gedanken auf, dass ich
anders war, kein Teil der Gesellschaft und fühlte mich häufig ausgeschlossen
und einsam. Selbst in Gesellschaft war ich überfordert, zog mich meist zurück
und fand keinen Anhang.
Trotzdem fiel es mir nicht schwer, Freunde zu finden. Doch nun, viele Jahre
später, weiß ich wie schwer es mir fällt sie auch zu pflegen.
Ich genieße es, allein zu sein. Denn allein zu sein bedeutet keinen störenden Einflüssen ausgesetzt zu sein, welche an mir nagen und mir jegliche Energie rauben. Das heißt nicht, dass ich keine Gesellschaft mag – ganz im Gegenteil. Jedoch genieße ich Gesellschaft etwas anders als es wohl „normal“ ist.
Wenn meine Gesellschaft reden möchte, so braucht es für mich
mehr als nur Smalltalk. Ich will Substanz, Tiefe, raue Emotionen. Ich kann
stundenlang über die Mechaniken der Welt sprechen, ohne dass ich die Meinung anderer
bewerten, oder in irgendeiner Weise annehmen muss. Ich will nur Austausch –
ohne Bedingungen.
Doch das kann ich nicht lange aufrechterhalten, schließlich kann man auch nur
so lange über Gott und die Welt sprechen. Dann wechsle ich gern zur zweiten
Option – dem „Parallel Play“. Kurz gesagt will ich irgendetwas machen, während
meine Gesellschaft auch etwas macht. Jeder für sich, jedoch am selben Ort. Ohne
dass dabei ein Gespräch geführt werden muss. Einfach nebeneinander existieren.
Klingt eigenartig, oder? Doch ich liebe es, wenn mich
Freunde besuchen kommen, wir trinken gemeinsam ein Getränk unserer Wahl, reden
kurz und gehen dann jeweils einer anderen Beschäftigung nach. Mein Besuch liest
ein Buch auf meinem Sofa, es läuft ruhige Musik im Hintergrund und ich räume
auf oder arbeite an einem meiner vielen Projekte weiter.
Meine Schwester war schon mal über Nacht bei mir und hat an einem ihrer
Projekte gearbeitet, während auf dem Fernseher „Detektiv Connan“ lief und ich
an meinem PC ein Videospiel gespielt habe. So etwas liebe ich sehr.
Autist mit ADHS zu sein bedeutet für mich die meiste Zeit über zu wenig Energie für gefühlt alles zu haben was mich und meinen Körper am Leben halten würde. Die einfachsten Dinge fallen mir enorm schwer. Ist es nun die tägliche Körperpflege, Nahrungszubereitung oder Nahrungsaufnahme, Bewegung oder Soziale Interaktion. Mir geht entweder währenddessen die Puste aus oder das Fass ist bereits leer und ich schaff es gar nicht erst damit anzufangen.
Die häufigsten Gründe dafür sind Überstimulation, schlechter Schlaf oder dass ich mich die Tage davor übernommen habe.
Mir war vor meinen Therapien und vor meiner Diagnose gar nicht bewusst, wie viele Dinge eine enorme Stimulation bei mir auslösen, die sehr schnell ins Negative kippen kann. Eines der ersten Dinge die ich häufig dafür als Beispiel nenne, ist Regen. Ich ertrage Regen nicht. Wenn ich das Haus ohne einen Regenschirm verlasse und es regnet, ist der Rest meines Tages meist absolut erfolgslos. Auch zu lange bei Regen draußen zu sein, verringert im Sekundentakt meine Möglichkeit, den Rest des Tages ein normaler Mensch zu sein. Jetzt fragt ihr euch sicher, was denn so schlimm an Regen ist, ist ja schließlich nur ein wenig Wasser. Nicht für mich. Regen bedeutet ich oder meine Kleidung werden ungewollt nass woraufhin mir kalt sein wird. Das Gefühl von nasser oder klammer Kleidung auf der Haut fühlt sich wie Reibeisen an und Regentropfen auf meiner Haut stechen wie Nadelstiche. Darüber hinaus ist Regen laut und ein Geräusch, welches ich nicht leiser oder abstellen kann.
Klingt extrem, oder?
Genau so extrem fühlen sich gewisse Dinge für mich an.
Nehmen wir nun den Sommer als nächstes Beispiel. Abgesehen davon, dass ich in
einer Dachgeschosswohnung wohne (zwar gut isoliert, aber im Sommer scheint das
keine Bewandtnis zu haben) habe ich so meine ganz eigenen Probleme mit dem
Sommer.
Neben den vielen Krabbeltieren welche plötzlich aus allen Ritzen krabbeln, ist
es vor allem die Sonne, welche mir enorm den Tag versauen kann.
Zu sagen ich wäre hitzeempfindlich trifft den Ton nicht ganz. Ich fühle mich
eher so, als würde die Sommerhitze meine Eingeweide kochen und meine Haut
schmelzen.
Nicht nur bekomme ich superschnell Sonnenbrand, die Sonnenstrahlen fühlen sich
zudem so an, als würden sie mir die Haut von den Knochen brennen. Mein Körper
fühlt sich an, als ob er sich mit jedem weiteren Sonnenstrahl nur weiter und
weiter aufheizt und selbst ein Ventilator bringt keine Besserung. Ich fühle
mich wie ein Dampfdrucktopf ohne Ventil.
Meine Haut bekommt Ausschläge, mein Kopf wird rot, heiß und ich bekomme überall
keine Pusteln im Gesicht. Sommer, Sonne und Temperaturen über 25 Grad schlagen
mich so schnell K.O., dass mir nicht einmal die Zeit bleibt, meine Arme zur
Verteidigung zu heben.
So ungefähr fühlt sich mein ganzes Leben an. Zu viel, zu laut, zu heiß, zu kalt – einfach zu alles. Ohne die Unterstützung meiner Familie und engen Freunde hätte mich das bestimmt schon längst an den Rand zum Wahnsinn oder in einen weiteren Klinikaufenthalt getrieben.
Es ist ermüdend, all diese Dinge zu fühlen und sich dabei so unfähig zu fühlen, etwas dagegen zu unternehmen. Denn das Beste, was ich tun kann, ist mich vielem davon gar nicht erst auszusetzen. Doch das geht im täglichen Leben einfach nicht immer. Ich kann nicht einfach die Lautstärke meiner Umgebung herunterdrehen oder die Helligkeit der Sonne dimmen.
Am Ende wirkt das Leben auf mich so, als würde ich mit weitaus schwierigerem Level spielen müssen als viele andere Menschen. Ohne die Option auf „Einfach“ stellen zu können. Dadurch habe ich viele Jahre meines Lebens geglaubt, ich sei dumm, faul oder einfach nur unfähig. Stellte sich heraus, das Leben ist um einiges schwieriger, wenn man alles in seinem Umfeld um einiges intensiver wahrnimmt als andere.
Für mich als spätdiagnostizierte Autistin mit ADHS eröffnen sich etwas andere Probleme als bereits früher Diagnostizierte mit ähnlicher Diagnose. So darf ich nun in mühevoller Kleinstarbeit all die Methoden und Mechaniken, welche ich mir über die Jahre angeeignet habe, nun auf deren Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit prüfen. All jene Masken, welche ich nutze, um mein Leben zu meistern, gehören auf den Prüfstand und viele haben bereits einen deutlichen „Do not use!“ Aufkleber erhalten, da mich deren Benutzung nachhaltig schädigt.
Ich bin also im Prozess, mein „Ich“ zwischen all den Masken, Mechaniken und Gedanken herauszufischen und im gleichen Maße dennoch „Lebensfähig“ zu bleiben. Ein Drahtseilakt der mir an vielen Tagen kaum Luft zum Atmen lässt.
Eine Entscheidung, welche ich bereits vor einiger Zeit
getroffen habe, ist, dass ich nicht verstecken werde, wer ich bin. Zu versuchen
ein „normaler“ Mensch zu sein, hat mich krank gemacht. Offen damit umzugehen
wird mein Leben nicht „leicht“ machen. Doch es verringert die Anzahl an Masken
die ich mich gezwungen fühle zu tragen.
Und so habe ich erst vor einigen Tagen, während eines für mich sehr schwierigen
Momentes das erste Mal einer fremden Person gegenüber keine Maske aufgezogen,
sondern gesagt: „Entschuldigung, ich bin Autist. Könnten Sie mir kurz etwas
Zeit geben?“.
Ich bin stolz darauf, wie weit ich bereits gekommen bin ich werde auch weiterhin daran arbeiten herauszufinden, wer „Ich“ bin, wo meine Grenzen liegen und welche Dinge mir mehr Energie rauben als erlaubt sein sollte.
Ich hoffe ihr seid gespannt auf noch viele solcher Blogposts, bei welchen ich euch an meinen Erfahrungen als Autist mit ADHS teilhaben lasse.
Danke für eure Aufmerksamkeit! Bis bald!
eure Nijura

Kommentare
Kommentar veröffentlichen